Mia Couto
Das Geständnis der Löwin


Unionsverlag, Zürich 2014.
Gebunden, 272 Seiten, 19,95 EUR

Rezension von Regina Riepe

„Solange die Löwen sich nicht ihre eigenen Geschichten ausdenken, werden in Jagdberichten immer Jäger die Helden sein“. Dieses afrikanische Sprichwort – am Anfang des Romans von Mia Couto zitiert – legt nicht etwa nahe, dass nun die „Heldengeschichte“ einer Löwin geschrieben wird, die Menschen überfällt und tötet. Es geht vielmehr um unterschiedliche Sichtweisen auf ein Geschehen, die in zwei Erzählsträngen zu Wort kommen – im „Tagebuch des Jägers“ und in „Mariamars Version“. Was das Mädchen mit der menschenfressenden Löwin zu tun hat, erschließt sich erst am Ende dieses ungewöhnlichen Romans, in dem nach und nach alle Gewissheiten schwinden.

Man kennt die Vorbemerkung aus vielen Büchern „Ähnlichkeiten mit....sind zufällig und nicht beabsichtigt“– und blättert weiter. In diesem Roman ist es anders. Mia Couto nimmt ausdrücklich Bezug auf die Geschehnisse 2008 in einem Dorf im Norden Mosambiks, in dem Löwen plötzlich Menschen anfallen und töten, bis Jäger aus der Hauptstadt dem Spuk ein Ende setzen. Wie konnte es soweit kommen und was ist dort eigentlich passiert? Der Autor versucht in einer magisch-realistischen Erzählweise dem Kern der Geschichte nahe zu kommen und das aufzudecken, was hinter einem solchen Überfall stehen könnte. Der Leser gerät in einen Strudel von Ereignissen, hinein in die Welt eines Dorfes, unter dessen Oberfläche es brodelt. Der Krieg ist Vergangenheit – und hat seine tiefen Spuren hinterlassen. Wie es das Mädchen Mariamar erklärt: „Je mehr Gewissheiten der Krieg uns raubte, umso mehr fehlte uns die Sicherheit einer von Ordnung und Gehorsam geprägten Vergangenheit.“ Durch den Krieg wird die Dorfgemeinschaft engstirniger und traditioneller. Leidtragende sind die Frauen, deren Lebenslust und Eigenständigkeit zerstört wird von einer Ordnung, in der Männer das Sagen haben. Väter, Ehemänner, Dorfpolizisten, Nachbarn – alle sind Herrscher über den Körper und den Geist einer Frau. Ein junges Mädchen, das versehentlich über einen verbotenen Platz im Busch läuft, der für die Initiation der Jungen reserviert ist, kann „zur Strafe“ von zwölf angesehenen Männern vergewaltigt werden. Männer haben alle Macht der Welt – Ehefrauen und Töchter fügen sich. „Der wahre Name der Frau heißt Ja“ wird ein Sprichwort zitiert. Die Auflehnung einiger Frauen findet im Verborgenen statt. Sie ist mörderisch.

Neben realen Löwen, die getötet und der Presse auf einem Foto samt Jäger präsentiert werden, gibt es eine andere Realitätsebene, die in Träumen, in Halluzinationen, im Wahnsinn ihren Ausdruck findet. Alle im Dorf „wissen“, dass es mehr gibt, als die realen Löwen im Busch. Ein menschenfressender Löwe ist eine Grenzüberschreitung, was hat ihn ins Dorf gelockt? Wieso hat er gerade diese Frauen getötet? Es gibt Menschen, die Löwen „fabrizieren“ können, Mensch und Löwe können sich ineinander verwandeln. Angst, Wut und Schrecken bringen die Dorfbewohner dazu, auf Löwenjagd zu gehen und auf Menschenjagd, um den Übeltäter auszumerzen. Währenddessen bleibt der eigens angeheuerte Jäger aus der Stadt Beobachter des Geschehens, er ist mehr mit seiner eigenen Geschichte beschäftigt als mit seinem Auftrag. Arcanjo ist der letzte Spross einer berühmten Großwildjägerdynastie, für ihn ist die Jagd mehr als das bloße Töten eines Tieres, es ist Begegnung, fairer Kampf. Doch er wird seinen Anspruch und sein Versprechen nicht einlösen können. Auch auf ihm lastet der Schatten der Vergangenheit und mit jedem Tag im Dorf lösen sich seine Gewissheiten auf.

Gibt es eine Lösung aus all der Verstrickung? Momente der Hoffnung waren die Liebe des Großvaters zu Mariamar, er versuchte, seine Enkelin vor der Familie zu retten und die Liebe von Luzilia zum Jäger – und zu seinem Bruder, der den gewalttätigen Vater getötet hat und nun in einer Irrenanstalt lebt. Alles führt zum Wahnsinn hin – nicht zum Tod. Denn ein Toter ist für seine Familie und die Dorfgemeinschaft weiterhin wirkmächtig. Nur der „Verrückte“ kann keinen Schaden anrichten, hat keinen Einfluss und ist wirklich „unschädlich“ gemacht. Welch eine Zukunftsvision für die Abweichler, die Ausbrecher aus dieser Gesellschaft. Asyl – die alte Bezeichnung für das Irrenhaus, die Psychiatrie kommt dem Leser in den Sinn.

Was ist nun wirklich passiert in diesem Dorf? Wird der Schrecken aufhören, jetzt, wo zwei Löwen als Menschenfresser getötet wurden, die Fremden das Dorf verlassen und alles weiter seinen Gang geht? Oder hat das Geschehen die Dorfgemeinschaft genauso unwiderruflich verändert wie die einzelnen Gestalten des Buches, wie den Jäger, wie Mariamar oder den Verwalter und seine Frau? Ein fesselndes Buch mit reichlich Stoff zum nachdenken und weiterspinnen, dessen Lösungen nicht auf der Hand liegen – ein großes Stück afrikanischer Literatur, wieder meisterhaft übersetzt von Karin von Schweder-Schreiner.